Schul­jah­re in Feldmoching

Schul­jah­re in Feld­moching (1948 – 1951)

auf­ge­zeich­net von Harald Landgraf

Nichts, was groß ist auf die­ser Welt, ist den Men­schen geschenkt wor­den. 1940

Beim Lesen der stei­ner­nen Inschrift über dem Ein­gang der Feld­mochin­ger Schu­le wird mei­ne Kind­heit und Schul­zeit kurz nach Kriegs­en­de wie­der leben­dig. Es war eine arm­se­li­ge, düs­te­re Zeit.

Ich betrach­te die alten Klas­sen­fo­tos, und es kommt mir vor, als ob wir Kin­der von damals doch anders gewe­sen waren als die Jugend von heu­te. Man­che sehen ver­dro­schen, bedrückt und ver­stört aus. In Gedan­ken höre ich wie­der, wie in der Klas­se die Namen auf­ge­ru­fen wer­den. Der Vater? – ver­mißt – gefal­len. Und dann fällt mir das Lied aus Kind­heits­ta­gen wie­der ein: „Mai­kä­fer flieg, der Vater ist im Krieg, die Mut­ter ist in Pom­mer­land, und Pom­mer­land ist abge­brannt. Mai­kä­fer flieg…“ – Die Flücht­lings­kin­der in unse­rer Klas­se waren in den vor­he­ri­gen Kriegs­ge­fan­ge­nen­la­gern in der Fasa­ne­rie unter­ge­bracht. Ich den­ke an Wil­li, einen mei­ner Spiel­ka­me­ra­den aus dem Lager. Er hat­te ein höl­zer­nes Bein ab dem Knie. Sein vie­les Spiel­zeug aus Holz konnt ihm das feh­len­de Bein nicht erset­zen. Die Erin­ne­rung an die Wohn­raum­be­schlag­nah­me für Aus­ge­bom­te bei uns im Hau­se reißt mich aus der Grü­be­lei her­aus. Ich sehe wie­der den Schul­an­fang vor mir.

In der ers­ten und teil­wei­se zwei­ten Klas­se hat­te ich Leh­re­rin Weitl im Unter­richt. Das Klas­sen­zim­mer war über­füllt. Fast 60 Schü­ler saßen in drei lan­gen Bank­rei­hen hin­ter­ein­an­der. Im Lau­fe der Zeit wur­den wir nach der Bega­bung zusam­men­ge­setzt. In der rech­ten Rei­he bei der Türe saßen die bes­se­ren Schü­ler, in der mitt­le­ren die durch­schnitt­li­chen und in der lin­ken Rei­he beim Fens­ter die schlech­ten Schüler.

Leh­re­rin Weitl habe ich als sanft­mü­ti­ge, gefühl­vol­le, lie­bens­wer­te Frau in Erin­ne­rung. Ich sehe sie heu­te noch in Gedan­ken im Musik­raum am Kla­vier sit­zen. Wir muß­ten das Lied ler­nen: „Grün, grün, grün sind alle mein Klei­der, grün, grün, grün ist alles was ich hab, weil mein Schatz ein Jäger, Jäger ist.“ Das wur­de in allen Far­ben durch­ge­sun­gen, jeder konn­te sich dazu einen ande­ren Schatz aus­den­ken. Am Ende mel­de­te sich der Kör­prich Rudi, er war der Lus­tigs­te in der Klas­se: „Grau, grau, grau sind alle mei­ne Klei­der…“ – Leh­re­rin Weitl am Kla­vier beglei­tend, stutz­te. – „Grau, grau, grau ist alles was ich hab, weil mein Schatz – ein Geist ist.“ Und dann ist er lachend ganz schnell davongelaufen.

Ein Schul­aus­flug kommt mir in den Sinn. Wir gin­gen zu Fuß durchs Moos ins Schwarz­hölzl. Bei einem Föh­ren­wald neben einem Bach haben wir zum Essen Pau­se gemacht. Der Gie­siebl Hel­mut, der in der Klas­se hin­ter mir saß, hat als ein­zi­ger auch an sei­ne Mut­ter gedacht. Für sie hat er „Rei­se­an­denken“ gesam­melt – gewöhn­li­che Kie­sel­stei­ne, die er in sei­ne Brot­zeit­ta­sche ein­füll­te und mit nach Hau­se nahm, um ihr eine Freu­de zu bereiten.

Zum Schul­be­ginn, im Jah­re 1948, tru­gen man­che mei­ner Schul­ka­me­ra­den noch die soli­den Leder­gür­tel der Hit­ler­ju­gend, mit Haken­kreuz­schloß. Leh­re­rin Weitl war dar­über ent­setzt und hat es ver­bo­ten. Zu groß war die Furcht vor einer Kon­trol­le der ame­ri­ka­ni­schen Besatzungsmacht. –

Doch damals hat man ein­fach alles irgend­wie Brauch­ba­re wei­ter­ver­wen­det, was der Krieg übrig gelas­sen hat­te, denn kau­fen konn­te man kaum etwas. Die Reichs­mark war nichts mehr wert, und die Lebens­mit­tel­mar­ken bis zur Wäh­rungs­re­form reich­ten kaum aus zur Ernäh­rung. Mei­ne Eltern hat­ten für den Gemü­se­an­bau ein Rui­nen­grund­stück im Eggar­ten zuge­wie­sen bekom­men und ein Stück Acker mit vie­len Wühl­mäu­sen beim eins­ti­gen Lager. Für das Fleisch hat­ten wir einen Hasen­stall im Hof. Im Som­mer gin­gen wir zum „Ähern“, zum Ähren­sam­meln auf den gemäh­ten Fel­dern. Aber die Bau­ern hat­ten so wenig übrig­ge­las­sen, daß man nach einem gan­zen Nach­mit­tag nur ein Ähren­bü­schel zusam­men­ge­sucht hat­te, das leicht auf dem Fahr­rad­ge­päck­trä­ger nach Hau­se gebracht wer­den konn­te. Immer­hin hat­te mei­ne Mut­ter auf die­se Wei­se ein Säck­chen Getrei­de­kör­ner, die sie auf dem Ofen für den Kaf­fee rös­ten konnte.

Aber ein­mal hat­te sie etwas mehr Glück. Rol­len doch eines Tages mit­ten im Som­mer in einer rie­si­gen Staub­wol­ke zwei ame­ri­ka­ni­sche Armee­las­ter durch die Him­mel­schlüs­sel­stra­ße, in der ich wohn­te, hoch bela­den mit Säcken, über­que­ren die Bahn, und fah­ren direkt zum Acker­mann­see (heu­te Fasa­ne­rie­see) bis zu einem Steil­ufer. Dort kip­pen sie ihre Fracht in den See. Es waren Säcke mit ver­dor­be­nem Mehl. Die Nach­richt hat sich blitz­ar­tig in der Fasa­ne­rie ver­brei­tet – damals ganz ohne Tele­fon. Mei­ne Mut­ter hat, ohne zu über­le­gen alles lie­gen und ste­hen­ge­las­sen, sofort die Ein­kaufs­ta­sche und einen Teigscha­ber ergrif­fen und ist schnells­tens auf einem Abkür­zungs­weg zum Bag­ger­see gera­delt. Natür­lich hat­ten die Baden­den längst alle Säcke, die nicht ins Was­ser gerutscht waren, beschlag­nahmt. Jedoch waren vie­le der Säcke auf­ge­platzt im Was­ser gele­gen. Mei­ne Mut­ter ist gleich mit­samt den Klei­dern bis zum Bauch hin­ein­ge­gan­gen und hat den nas­sen Mehl­brei vom Grund in ihre Ein­kaufs­ta­sche geschöpft. Zu Hau­se wur­de das Mehl getrock­net und die Mehl­wür­mer wur­den aus­ge­siebt. Und dann buck mei­ne Mut­ter wohl­schme­cken­de Weih­nachts­plätz­chen mit­ten im Sommer …

Koh­len zum Hei­zen gab es kaum. Die Haus­be­woh­ner haben irgend­wann einen Last­wa­gen auf­ge­trie­ben, wohl einen Holz­ver­ga­ser, denn Ben­zin gab es fast nicht mehr, um damit Bruch­holz aus dem Wald von Graf­rath zu holen. Die­ser Wald wur­de nach einem schwe­ren Luft­an­griff auf Mün­chen durch den nach­fol­gen­den Feu­er­sturm umgerissen.

Spä­ter wur­den rie­si­ge Flug­zeug-Pro­pel­ler mit höl­zer­nen Flü­gel­blät­tern, wahr­schein­lich von Bom­bern, auf der Wie­se neben dem Hau­se abge­la­den, zum Zer­sä­gen und Ver­hei­zen. Am bes­ten aber brann­te die Wachs­ver­pa­ckung ame­ri­ka­ni­scher Armee­kis­ten, die in die Gru­be an der Ler­chen­au­er Stra­ße neben der Bahn gekippt wurden.

Da muß ich wie­der an unse­ren Küchen­herd den­ken. Die eine Hälf­te war für eine klei­ne Koh­len­feue­rung, die aber nur wenig wärm­te, mit Rin­gen, die man aus der Herd­plat­te her­aus­hob, um die Töp­fe über das offe­ne Feu­er set­zen zu kön­nen, die ande­re Hälf­te hat­te drei elek­tri­sche Koch­plat­ten. Die ers­te Plat­te war sehr groß und brauch­te zuviel Strom, die zwei­te ging gar nicht, und die drit­te wur­de zwar etwas warm, jedoch muß­te man sie vor­her rüt­teln, denn sie steck­te gefähr­lich locker in der Herd­plat­te. Noch mehr behin­dert wur­de das Kochen durch häu­fi­ge Strom­sper­ren. – Glau­be aber nie­mand, die Fasa­ne­rie wäre bei Strom­aus­fall nachts in völ­li­ge Fins­ter­nis ver­sun­ken – nein! Dafür hat­te man in allen Haus­hal­ten schon Ker­zen bereit­ge­hal­ten – aber einer im Orte hat­te doch tat­säch­lich trotz tota­ler Strom­sper­re immer rich­ti­ges elek­tri­sches Licht – und das war aus­ge­rech­net auch noch dazu einer der Ärms­ten! Dies war so auf­se­hen­er­re­gend, daß es gleich über­all bere­det wur­de, und jeder muß­te die­ses Wun­der unbe­dingt gese­hen haben. Er haus­te in einer schie­fen, feuch­ten Bret­ter­hüt­te in der hin­ters­ten Fasa­ne­rie am Rei­gers­bach, fern der Licht­lei­tung. Dort hat­te er sich ein höl­zer­nes Was­ser­rad gebaut, in den Bach hin­ein­ge­stellt und ver­mut­lich damit einen Fahr­rad­dy­na­mo ange­trie­ben, der ein win­zi­ges Lämp­chen in sei­ner Hüt­te zum Leuch­ten brachte …

Auch zwei Weih­nach­ten nach dem Krie­ge kom­men mir wie­der in Erin­ne­rung. Das ers­te war für mich äußerst beschei­den: ein Stoff­tier und ein ble­cher­ner Kran, der auf den Fil­ter einer Gas­mas­ke auf­ge­setzt wor­den war. Beim zwei­ten Weih­nach­ten bekam ich tat­säch­lich eine klei­ne ble­cher­ne Eisen­bahn zum Auf­zie­hen. Mein Vater hat­te sie gegen eine sil­ber­ne Uhr eingetauscht.

Spä­ter muß­te ich an Weih­nach­ten beim Auf­stel­len des Christ­bau­mes hel­fen. Wir hat­ten einen alten Christ­baum­stän­der, eine run­de Zement­plat­te mit einem Rohr in der Mit­te, das jedoch sehr locker war. Trotz vie­ler Kei­le stand der Baum immer schief – ein uner­träg­li­cher Anblick für mei­nen Vater. Des­halb hol­ten wir den Küchen­ho­cker, dreh­ten ihn um und ban­den den Baum mit Draht und Schnü­ren an den Füßen fest und ver­deck­ten die­sen wacke­li­gen Pfusch mit einem Tisch­tu­che – ver­geb­lich. Schließ­lich sag­te mein Vater zu mir: „Weißt du was? Schen­ken wir uns zu Weih­nach­ten einen Christbaumständer…“

Bei den „Hams­ter­fahr­ten“ zu den Bau­ern aufs Land, etwa im Güter­zug mit offe­nen Wag­gons bis nach Lan­gen­bach in Nie­der­bay­ern, brauch­te man etwas zum Tau­schen. So hat mein Vater für Weih­nach­ten Wachs­ker­zen gezo­gen und die­se an – wahr­schein­lich auch Feld­mochin­ger – Bau­ern ver­tauscht. Hier­für war ein glä­ser­nes Tablet­ten­röhr­chen nötig mit einem dar­in ver­senk­ten Docht. Was aber tun, wenn es gar kein Wachs gibt, von einem Doch­te gar nicht zu reden? Mein Vater hat in einem Topf irgend­ei­ne uner­klär­ba­re Mas­se zusam­men­ge­kne­tet und dar­aus die Ker­zen gegos­sen. Beim Weih­nachts­fest sind die­se Ker­zen auf unse­rem eige­nen Christ­baum sofort erlo­schen – und bei den Bau­ern sicher­lich auch.

Aus die­ser Hams­ter­zeit ist noch ein Kin­der­buch erhal­ten geblie­ben, für das mei­ne Mut­ter Gedich­te geschrie­ben und mein Vater die Bil­der gezeich­net hat­te. Die Sei­ten wur­den durch Licht­pau­sen ver­viel­fäl­tigt und gebun­den. Dann kamen die Kin­der aus der Nach­bar­schaft und hal­fen alle mit beim Anma­len der Zeichnungen. –

In der ers­ten Klas­se begann auch der Reli­gi­ons­un­ter­richt beim Geist­li­chen Rat, ein älte­rer, dick­li­cher, schwarz geklei­de­ter Herr. An die ers­te Stun­de erin­ne­re ich mich noch genau. Wir zeich­ne­ten die Stadt­an­sicht von Jeru­sa­lem. Das hat mich sehr beein­druckt. – Aber der Geist­li­che Rat erwar­te­te auch, daß wir jede Woche ein­mal zum Schul­got­tes­diens­te erschie­nen, vor dem Unter­richt. Im Reli­gi­ons­un­ter­richt muß­te dann jeder auf­ste­hen, der nicht im Schul­got­tes­dienst gewe­sen war. Und der Geist­li­che Rat hat gedroht: „Ich wer­de euch schon noch kreu­zi­gen!“ Ich gehör­te natür­lich immer dazu, ver­ständ­lich, denn ich hat­te ja einen Schul­weg von etwa einer Stun­de von der Fasa­ne­rie bis nach Feldmoching.

Ganz rein katho­lisch war unse­re Klas­se nicht. Ein Schü­ler war evan­ge­lisch. Der muß­te zum Reli­gi­ons­un­ter­richt in das älte­re Schul­haus hin­über­ge­hen. Für uns war eine sol­che Reli­gi­on schon sehr fremd­ar­tig und unpassend.

Um 10 Uhr war Pau­se und es gab die Schul­spei­sung der Ame­ri­ka­ner. Beim über­dach­ten Weg vor dem Schul­ein­gang wur­de ein gro­ßer Behäl­ter abge­la­den, vor dem wir uns alle anstell­ten, und jeder bekam einen gro­ßen Schöpf­löf­fel Erb­sen­sup­pe oder Grieß­brei mit Rosi­nen in sei­nen Essens­topf. Manch­mal gab es auch etwas Beson­de­res – Kakao und Kuchen. Und dann sind wir im Schul­hof her­um­ge­lau­fen wie alle Kin­der, mit einer ein­zi­gen Aus­nah­me: der Jahn­ke Wal­ter. Der hat sich immer als Sol­dat gefühlt, und dem­entspre­chend war sei­ne Spra­che mili­tä­risch geprägt. Er kämpf­te auf dem Schul­ho­fe stets mit einem unsicht­ba­ren Fein­de, das Maschi­nen­ge­wehr­feu­er war deut­lich zu hören – so, als ob immer noch Krieg gewe­sen wäre.

Wegen des wei­ten Schul­we­ges durf­te ich im Win­ter mit der Eisen­bahn von der Fasa­ne­rie nach Feld­moching fah­ren. Fahr­kar­ten waren so kurz nach Kriegs­en­de sehr teu­er und es fuh­ren erst weni­ge Züge. Für eine Schü­ler­er­mä­ßi­gung muß­te die Schu­le ein Antrags­for­mu­lar aus­fül­len, das am Fahr­kar­ten­schal­ter vor­zu­le­gen war. Nur mit die­sem Antrags­for­mu­lar und der Fahr­kar­te zusam­men konn­te ich die Bahn­steig­sper­re pas­sie­ren und die zwei Kilo­me­ter mit der Eisen­bahn fah­ren. Für mich war dies schon wie eine rich­ti­ge Rei­se, ganz auf mich gestellt, natür­lich in der III. Klas­se mit Holz­bank. Anfangs fuh­ren noch die schwar­zen preu­ßi­schen Cou­pé-Wag­gons, die außen lan­ge Tritt­bret­ter und zu jedem Abteil eine eige­ne Türe hat­ten. Das Ein­stei­gen war auf­re­gend, weil es schnell gehen muß­te: Türe auf, alles besetzt, Türe zu – nächs­te Türe, das­sel­be – dann Halt! – Schwer­be­schä­dig­ten­ab­teil! – schnell wei­ter – end­lich irgend­wo ein­fach zwi­schen die sit­zen­den Fahr­gäs­te hin­ein­zwän­gen. Fer­tig! – Spä­ter fuh­ren die Züge mit den „Don­ner­büch­sen“, Wag­gons, die an bei­den Enden eine offe­ne Platt­form hat­ten, und Sche­ren­git­ter, die her­un­ter­ge­klappt wur­den. Von der zugi­gen Platt­form aus hat­te man eine schö­ne Aussicht.

Vor der Fahrt leg­ten wir manch­mal ungül­ti­ge Reichs­mark­mün­zen auf die Schie­nen und lie­ßen sie vom Zug plattwalzen.

Ein ande­res Bild steigt bei der Eisen­bahn­fahrt wie­der aus der Erin­ne­rung auf. Ich habe nach Kriegs­en­de auf einem Abstell­gleis des Schleiß­hei­mer Bahn­ho­fes in lan­ger Rei­he die von Tief­flie­gern zer­schos­se­nen und aus­ge­brann­ten Dampf­lo­ko­mo­ti­ven gese­hen. Mein Bru­der und ich sind auf eine sol­che Dampf­lo­ko­mo­ti­ve hin­auf­ge­klet­tert und wir haben uns im zer­stör­ten Füh­rer­haus die ver­bo­ge­nen Hebel und gesprun­ge­nen Instru­men­te ange­se­hen. Dann sind wir über den getrof­fe­nen Kes­sel geklet­tert und vor­ne bei der Rauch­kam­mer­tü­re wie­der her­un­ter­ge­stie­gen. Ein unver­geß­li­cher Eindruck.

In der drit­ten Klas­se hat­te ich Leh­rer Amann. Die Zeit der Schie­fer­ta­fel war been­det. Ab jetzt muß­ten wir mit Tin­te in Hef­te schrei­ben. Es man­gel­te an Schul­bü­chern, und sie wur­den des­halb von der Schu­le nur äußerst ungern aus­ge­ge­ben, vor allem die kost­ba­ren, aber zer­fled­der­ten Rechen­bü­cher. Des­halb hat man uns in der Schu­le gesagt: „Mit eige­nen Büchern lernt es sich sicher bes­ser!“ Aber Bücher zu kau­fen war natür­lich für vie­le Eltern zu teu­er. Doch ein Buch hat­te auch ich von zu Hau­se. Es war das alte Reli­gi­ons­buch mei­nes Bru­ders. Die­ses Buch war aber nicht in der Deut­schen Nor­mal­schrift, in Anti­qua, gedruckt, son­dern noch in der alten Frak­tur­schrift. Immer­hin waren die Bil­der die­sel­ben. Wenn ich dar­aus vor­le­sen soll­te, habe ich ein­fach gesagt, ich kann es nicht. Die Buch­sta­ben sind alle so eckig, daß ich sie nicht lesen kann. Leh­rer Amann hat erst gestutzt, nach­ge­schaut und dabei die Stirn gerun­zelt, und dann den nächs­ten Schü­ler aufgerufen.

Eine wich­ti­ge Neue­rung gab es in der drit­ten Klas­se bei der Schreib­schrift. Leh­rer Amann hat das neu­ar­ti­ge g rie­sen­groß an die Tafel geschrie­ben. „Das g hat unten ein Eck“, hat er gesagt. Wir durf­ten jetzt beim klei­nen g unten die Schlei­fe nicht mehr gebo­gen schrei­ben, wie bis­her, son­dern das g hat­te ab jetzt unten „ein Eck“ zu haben. Wehe dem, der kein Eck gemacht hat­te! Mei­ne Mut­ter hat mir beim Schrei­ben der Haus­auf­ga­ben zuge­schaut, ich muß­te eine gan­ze Sei­te Wör­ter mit vie­len die­ser eigen­ar­ti­gen g schrei­ben, wie flüg­ge, Egge und Bag­ger, und sie hat den Kopf geschüt­telt. Aber im Lau­fe der Zeit wur­den die g in der Klas­se natür­lich wie­der zuse­hends run­der. Kin­dern muß man ja alles hun­dert­tau­send­mal sagen. Des­halb erschien von Zeit zu Zeit das g immer wie­der rie­sen­groß an der Schul­ta­fel, und ich höre Leh­rer Amanns schar­fe Stim­me: „Das g hat unten ein Eck“…

Der Unter­richt war für ihn häu­fig ver­zwei­felt anstren­gend, bis hin zur Erschöp­fung. Die schlech­tes­ten Kin­der hat­te er vor der Tafel im Krei­se ver­sam­melt und müh­sam Auf­ga­ben immer noch mit den Fin­gern rech­nen las­sen – anders ging es nicht. Lesen mit dem Fin­ger Wort für Wort war ähn­lich schwie­rig, häu­fig war es nur ein Stot­tern. Die übri­gen Kin­der muß­ten wäh­rend­des­sen untä­tig und still in ihren Bän­ken sit­zen. Irgend­wann ist er hin­ter die Tafel zum Wasch­be­cken gegan­gen und hat aus einem Schöpf­löf­fel Was­ser getrun­ken. – Oft ein wüten­des Her­um­schrei­en. Ein­mal hat er einen Schü­ler nie­der­ge­schla­gen, bis er blu­tend am Boden lie­gen­ge­blie­ben ist. Welch unglei­cher Kampf. Die Lehr­kräf­te waren sehr streng, und der Tat­zen­stock stand in der Ecke griffbereit.

Zum Stun­den­wech­sel hat­ten wir kurz Gym­nas­tik. Wir muß­ten in unse­ren Sitz­bank­rei­hen auf­ste­hen, und es wird wohl aus­ge­se­hen haben, wie wenn eine Kom­pa­nie Sol­da­ten antritt. Dann bei­de Hän­de sich kurz umkrei­sen las­sen. Setzen!

Das Fach Hei­mat­kun­de wur­de von einem Refe­ren­dar unter­rich­tet. Das war eine will­kom­me­ne Abwechs­lung. Er erzähl­te über die Stadt Mün­chen im Mit­tel­al­ter, und wir sahen Bil­der einer unzer­stör­ten Stadt. Das wirk­li­che Mün­chen hin­ge­gen war völ­lig anders. Eine Fahrt mit der wie­der­eröff­ne­ten Tram­bahn führ­te durch Rui­nen, vor­bei an hohen Schutt­ber­gen. – Eines aus der Hei­mat­kun­de aber bleibt mir unver­geß­lich in Erin­ne­rung: die Durch­füh­rung einer mit­tel­al­ter­li­chen Hin­rich­tung am Gal­gen, mit­tels Zeich­nung genau erläutert …

Der Schul­un­ter­richt war in der drit­ten Klas­se immer nach­mit­tags. Im Som­mer konn­te ich mit mei­nem Kin­der­fahr­rad, das natür­lich gebraucht gekauft wor­den war, nach Feld­moching fah­ren. Die Ver­kehrs­re­geln waren damals noch im Anfangs­sta­di­um. Auf der Feld­mochin­ger Stra­ße, damals noch schmal und mit holp­ri­gem Kopf­stein­pflas­ter, konn­ten wir tun und las­sen, was wir woll­ten, links fah­ren, rechts fah­ren, frei­hän­dig fah­ren, fah­ren ohne Licht, jeman­den auf dem Gepäck­trä­ger oder Len­ker mit­neh­men, zu viert in der Mit­te der Stra­ße gehen. Und die Ver­kehrs­zei­chen? Es gab nur das Schild „Ach­tung Bahn­schran­ke“ in der Fasa­ne­rie. Aber es gab schon ein Preis­aus­schrei­ben für rich­ti­ges Ver­kehrs­ver­hal­ten, und mein Bru­der Hei­ni reim­te beim Früh­stück sofort eine neue, ein­präg­sa­me Ver­kehrs­re­gel: „Fah­re rechts und auf dem Rad­weg, sonst sind dir gleich zwei Mark weg.“ Doch einen Rad­weg gab es hier weit und breit nir­gend­wo, und Autos begeg­ne­ten einem höchst sel­ten. Das wich­tigs­te am Fahr­rad war ein Schloß zum Absper­ren, denn Räder waren wert­voll und wur­den oft gestohlen.

Eines Tages erschien die Orts­po­li­zei im Schul­hof. Fahr­rad­kon­trol­le, mit­ten im Unter­richt. „War­um hat das Fahr­rad kein Licht?“ – „Weil ich nachts nie fah­re.“ – „Aber die Vor­der­rad­brem­se geht auch nicht.“ – „Ja, ich fah­re ja ganz lang­sam.“ – „Das muß aber gerich­tet wer­den!“ – „Jawohl!“ Die Vor­der­rad­brem­sen von damals, falls sie über­haupt funk­tio­nier­ten, waren aber so gebaut, daß man eher stür­zen als brem­sen konn­te, man hat es ger­ne sein las­sen, sie zu benützen.

Eine Fahr­rad-Ket­ten­schal­tung war äußerst sel­ten zu sehen. Mein älte­rer Bru­der träum­te jedoch schon damals von einem Renn­rad, das unbe­zahl­bar war. Er hat sich sel­ber aus gefun­de­nen Tei­len ein Rad zusam­men­ge­baut – natür­lich ohne Gang­schal­tung, aber mit einem gebo­ge­nen Renn­len­ker. Der Rah­men wur­de blau gestri­chen und – damit es schnit­ti­ger wirk­te – mit wei­ßen Zier­li­ni­en ver­se­hen, wodurch es immer­hin schon renn­rad­ähn­lich aus­sah. – In einer Unter­richts­stun­de sind wir nach Pflan­zen gefragt wor­den. Und wir haben halt auf­ge­zählt, was wir auf den Äckern wäh­rend des Heim­we­ges alles ent­deckt hat­ten. Der Bich­ler Theo hat­te „Soach­ruam“*) gese­hen, gemeint waren Weißr­üben, aber das getrau­te er sich nicht zu sagen, denn die­ses Wort stinkt ja gera­de­zu nach Urin, des­halb sag­te er höf­lich „Seich­rüben“ – und patsch, schon hat­te er eine Wat­schen eingefangen.

Ein Besuch im Münch­ner Mario­net­ten­thea­ter fällt mir zum Schlus­se noch ein. Jeder Schü­ler, ange­fan­gen in der lin­ken Bank­rei­he am Fens­ter, muß­te her­nach im Unter­richt nach­er­zäh­len, was er im Thea­ter gese­hen hat­te, eine Stun­de lang gleich­för­mig immer wie­der das­sel­be. Dann kam schließ­lich ich dar­an. Ich erzähl­te aber dem Leh­rer Amann etwas viel Span­nen­de­res: wie die neue Was­ser­lei­tung vor unse­rem Hau­se von einer Tief­bau­fir­ma gelegt wur­de, in allen Ein­zel­hei­ten, die ich genau beob­ach­tet hat­te. Das hat Leh­rer Amann offen­sicht­lich sel­ber bes­ser gefal­len, nach­dem er fünf­zig­mal das glei­che gehört hat­te. Er hat gleich mit­ge­dacht und mich immer wie­der verbessert …

Irgend­wann in die­ser Zeit sind wir nach dem Unter­richt gemein­sam von der Schu­le zur Feld­mochin­ger Kir­che hin­über­ge­gan­gen. Die seit dem Krie­ge feh­len­den Glo­cken wur­den wie­der empor­ge­zo­gen. Und dann wur­de eine lan­ge, fried­li­che, bes­se­re Zeit ein­ge­läu­tet. Nach mei­ner lan­gen Wan­de­rung durch die weit zurück­lie­gen­de Ver­gan­gen­heit betrach­te ich ein letz­tes Mal nach­denk­lich das Mosa­ik­bild und die Inschrift am neu­en Schul­hau­se: Das Volk ver­jüngt sich ewig in sei­ner Jugend.

Harald Land­graf, Sep­tem­ber 2005

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